1/24 – BERGWANDERREITEN

Berninapass

Bergwanderreiten

Reiten als Bergsport?

Obwohl die Outdoor-Industrie kaum eine Aktivität auszulassen scheint, könnte man den Eindruck gewinnen, dass es Pferde und Reiter im Gebirge praktisch nicht gibt. Dabei gehörten noch vor gar nicht allzu langer Zeit Saumpferde und Mulis zur selbstverständlichen Versorgung der Berghütten. Und Alpenüberquerungen waren bis Anfang des 19. Jahrhunderts – soweit man es sich leisten konnte und nicht zu Fuß ging – auch nur mit Reittieren möglich.

Bun di Men!“ – „Hoi Ruedi!“„Allegra Marcello!” Seit einem Jahr hatten wir uns nicht mehr gesehen und nur noch per E-Mail und WhatsApp Kontakt gehabt. Jetzt treffen wir uns wieder in San Jon im Unterengadin und freuen uns auf unsere diesjährige Reittour. „Wir“, das ist eine Gruppe von 8 Schweizer Reiterinnen und Reitern, meine Person („Quotendeutscher“ aus dem Rhein-Main-Gebiet, wohin es mich einst von Aachen her verschlagen hat) und unser Rittführer Men, die schon seit mehreren Jahren immer im Sommer Wanderritte in den Alpen unternimmt.

Unsere Tour beginnt am Anreiseabend mit der Routenbesprechung. Am nächsten Morgen heißt es zügig frühstücken und fertig machen zum Satteln. In diesem Sommer 2023 wollen wir nun endlich unseren, schon lange geplanten Ritt über den Berninapass machen. Alle Pferde sind fit, ich bekomme wieder meine Freiberger-Stute Pacifique. Die Unterkünfte sind reserviert, die Wetterprognose für die nächste Woche ist „ziemlich gut“ und Walther wird uns mit seinem Trossfahrzeug mit Pferdfutter und unserem Gepäck begleiten. Wir brauchen also am Sattel nur warme Jacken, eine Notfallausrüstung für Erste Hilfe und Hufbeschlag, eine Regenpelerine und den Tagesproviant mitzuführen.

Pass da Val Viola

Von San Jon geht es direkt ins Val S-charl. Am Gasthof Mayor, bekannt als beliebter Ausgangspunkt für Skitouren, gibt es schon die erste Kaffeepause. Schließlich gehören zu einem richtigen Wanderritt neben Sport und Landschaft immer auch etwas Genuss und Kultur. Weiter geht’s bis auf die Alp Astras-Tamangur, wo wir das Val S-charl nach Südwesten verlassen und über die Fuorcla Funtana da S-charl (2.392 m) ins Val Müstair bergab zum Ofenpass (2.149 m) laufen, wo wir in Süsom Givè übernachten. Die Pferde bleiben in einer Koppel, die wir in der großen Straßenkurve unterhalb der Passhöhe mit Weidestangen abgesteckt haben. Nach sechs Stunden im Sattel geht so der erste Tag zu Ende. Die Pferde haben sich an ihre Reiter, und deren Beine, Hinterteile und Wirbelsäulen sich wieder an die schweren Westernsättel gewöhnt.

Alps da Buond mit Piz Palü

Aufstieg zum Berninapass

Der zweite Tag

… begrüßt uns mit strahlendem Sonnenschein. Wir verlassen das Val Müstair über die Alp Buffalora in Richtung Val Mora, wo wir dem gleichnamigen kleinen Fluss zur Grenze nach Italien folgen. Beim Blick von der Höhe Jufplaun hinab in dieses Tal am Rande des Schweizer Nationalparks fühlt man sich fast so wie ein einsamer Trapper in den unberührten Weiten der kanadischen Rocky Mountains. Aber bald treffen wir dann doch auf schmalem Pfad auf die ersten italienischen Mountainbiker, die uns aus dem Valle di Fraéle entgegenkommen. Wir übernachten in der Nähe von Cancano, wo wir mit einer üppigen Vesper und anschließend einem noch reichhaltigeren Abendessen verwöhnt werden.

Die steilen Serpentinen hinter den beiden alten Torri di Fraéle aus dem 14. Jahrhundert, Wachtürme an der „Via Imperiale d'Alemagna", (einer der Hauptverbindungen für den Handelsverkehr zwischen Bormio und dem Engadin,) sind angeblich bei Motorradfahrern und ehrgeizigen Radlern sehr angesagt. Zum Glück ist aber an diesem Morgen wenig Verkehr, nach wenigen Kehren verlassen wir schon wieder die Passstraße und reiten auf halber Höhe, immer auf ca. 1.800 m durch den Bergwald in Richtung Südwesten ins Val Viola Bormina. Auch die Wetterprognose für den dritten Tag ist bestens – und geht sogar in Erfüllung! So wird der Ritt zur Alpe Dosdè und weiter zum Pass da Val Viola zum eigentlichen Höhepunkt der gesamten Tour. Nicht nur, dass dieser Pass mit seinen 2.468 m sogar 140 m höher als der Berninapass ist, nein, der Blick auf den Gipfelkranz rund um den Corno di Dosdè und dann vom Joch aus zum Piz Palü in der Ferne ist schon grandios. Und wir haben, ohne es so recht wahrzunehmen, auch die Grenze zurück in die Schweiz überschritten. Anders als im noch relativ unberührten Val Viola herrscht hier im Schweizer Val da Camp reger Betrieb. Unzählige Ferienhäuser säumen rechts und links den Weg und neben der Saoseo-Hütte des SAC ist eine große Baustelle. Wir reiten weiter bis nach Sfazù. Hier bleiben wir jetzt zwei Nächte, so dass sich die Pferde etwas erholen können. Wir nutzen den freien Tag für einen Ausflug mit dem Posti und der Kleinen Roten (Berninabahn) zu den Gletschermühlen von Cavaglia und auf die Alp Grüm: ein fantastischer Blick von der Belvedere-Terrasse auf den leider inzwischen recht schmächtigen Palü-Gletscher und in die Valposchiavo.

Nach diesem Sightseeing-Tag

…sitzen wir am nächsten Morgen ausgeruht beim Frühstück, als wir ein seltsames, grummelndes Geräusch wahrnehmen. Durchs Fenster sehen wir, wie unsere Pferde plötzlich panikartig auf ihrer Koppel in einer Richtung davon galoppieren. Der Grund: ein Heli, mit einem Viertel Hochspannungsmasten unten dranhängend, versucht das Teil auf der Wiese direkt neben unserer Koppel abzulegen. Jetzt verstehe ich auch, warum wir statt der schönen, ebenen Wiese nur den mit großen Felsbrocken durchsetzten Hang daneben bekommen konnten. Zwar sind Pferde generell Fluchttiere, doch unsere Freiberger sind normalerweise kaum zu beeindrucken – aber das war jetzt auch für sie zu viel! Wir springen vom Frühstückstisch auf, sprinten zur Koppel und versuchen die Pferde wieder einzufangen und zu beruhigen. Zum Glück haben sie den Zaun nicht niedergerissen, sondern rechtzeitig gestoppt. Und es hat sich auch kein Ross an den Felsen verletzt. So kommen wir unverhofft zu einer flotten Abreise aus Sfazù, denn der Heli kommt schon mit den nächsten Montageteilen angeflogen.

Val Roseg – Endlich Feierabend!

Znüni, Valdidentro

Corno di Dosdè

Mittagsrast im Val da Camp

Während Radfahrer auf der Passstraße bleiben und die meisten Wanderer wohl per PKW, Bus oder Bahn aus dem Puschlav bis zum Bernina Hospiz hinauffahren, reiten wir auf dem alten, teilweise verfallenen Saumpfad, der wohl sogar noch auf die Römer zurückgeht. Schon bald haben wir die Passhöhe erreicht. Dank dem frühen Aufbruch und der kurzen Tagesstrecke bleibt jetzt noch genügend Zeit für eine kleine Wanderung. Nachdem die Pferde an dem kleinen See hinter dem Hospiz untergebracht und versorgt sind, laufe ich mit Freund Ruedi auf den Piz Campasc, von dessen Gipfel man eine herrliche Rundumsicht auf die Bernina, die Livigno-Alpen und im Norden bis zu den Albula-Alpen hat. Wanderreiten ist definitiv nichts für Gipfelsammler. Gipfeltouren zu Pferd wären wohl die absolute Ausnahme. „Berg“ kann hier, so wie im Sprachgebrauch früherer Zeiten, nur einen Pass bedeuten – Herausforderung und Abenteuer genug. Mit einer Passüberschreitung wechselt man immer von einer Landschaft in eine andere und entdeckt neue Perspektiven.

Am Abend

…schlägt das Wetter plötzlich um. Das Gewitter, das die ganze Nacht über tobt, ist nichts für schwache Nerven – nur unsere Pferde draußen auf der Weide kann das offenbar wenig beeindrucken. Am nächsten Morgen – bis 10 Uhr hocken wir noch im Skiraum und warten, dass es aufhört zu regnen – beginnt dann unser Abstieg ins Oberengadin. Nach einer Pause an der Schaukäserei in Morteratsch kommen wir gerade rechtzeitig am Hotel im Val Roseg an, um, nachdem die letzten Tagestouristen den Ort verlassen haben, die Reste des legendären Kuchenbuffets nach dem Motto „all you can eat“ zu vernichten.

Das Hochdruckwetter hat jetzt leider einen Tag Pause gemacht. Aber geschützt unter Regenpelerinen aus dem Swiss-Army-Shop (Geheimtipp für Outdoor-Equipment!) reiten wir heute am Inn und am Flughafen Samedan entlang bis Zuoz. Tag 9: wir überschreiten bei Cinuos-chel die imaginäre Grenze vom Ober- ins Unterengadin und kommen bis Zernez. Am nächsten Tag dann der Endspurt durch all die malerischen Dörfer des Unterengadins: Susch, Lavin, Guarda (es grüßt der Schellen-Ursli), Bos-cha, Ardez und Ftan bis nach Scuol. Für Ross und Reiter gibt es hier echtes, kräftiges Mineralwasser aus dem Dorfbrunnen.

Nach insgesamt 10 Tagen sind alle gesund und munter wieder in San Jon angekommen. Am Abend gibt es noch einmal ein vorzügliches Essen und dazu passend spanischen „Equus“-Wein. Doch „nach dem Ritt ist vor dem Ritt!“ und so fangen wir auch gleich schon wieder an, neue Pläne zu schmieden für unseren nächsten Alpen-Wanderritt.

Übrigens, man muss nicht unbedingt zu Pferd unterwegs sein. Die beschriebene Rundtour abseits ausgetretener Wege ist bestimmt auch für Mountainbiker und ausdauernde Wanderer geeignet.

Text: Marcellus Peuckert
Fotos: Gruppe
Karte:
Landeskarten der Schweiz 1:25 000, map.geo.admin.ch und SchweizMobil-App
Lektüre:
Eine Reise zu Pferd über die Alpen, ISBN: 978-3-7460-1312-1
Link:
sanjon.ch