Don’t race it!!!
Es ist einer dieser Momente, die einem für immer bleiben. Ich pedaliere aufwärts, der Weg ist von einer zentimeterdicken Eisschicht bedeckt, es hat Schneeregen und Wind und mein Partner, mit dem ich im Leben erst 5 Sätze wechseln konnte, brüllt mir beim Wechseln zu, dass ich mich nicht zu sehr beeilen soll. Es ist Januar in Schottland, 16 Stunden Dunkelheit und wir sind als Zweierteam in einem 24h MTB-Rennen unterwegs.
So haben mein Freund Falk und ich uns kennen gelernt. Falk ist Deutscher, lebt aber schon mehr als sein halbes Leben in Inverness. Wir haben seitdem einiges zusammen erlebt und auch unsere Frauen und Kinder verstehen sich so gut, dass wir mehr als einmal pro Jahr die Reise antreten, um einander zu besuchen. Nachdem wir beide im Laufe der Jahrzehnte der neuen Marketingaktion mit diesen Kompromiss-Fahrrädern erlegen sind - Gravelbikes heißen sie glaube ich - haben wir unsere zwei familienfreien Tage diesen Sommer dazu genutzt das Cairngorm Massiv zu umrunden.
Es gibt eine von Mark Beaumont (Rekordhalter für die Weltumrundung, 78 Tage und 14h 40’) und Jenny Graham (124 Tage und 11 Stunden) erstellte Route auf einer von ihnen unterstützten Website: https://bikepackingscotland.com/cairngorms/. Dummerweise ist das Ding auf vier Tage ausgelegt und wir hatten nur zwei zur Verfügung. Was macht man da? Don’t race it!!! Falks altes Rennmotto hat uns auch diesmal geholfen. Zuerst bei der Ausrüstung, wir haben unser Ultraleichtzeugs vom Hillrunning und Bergsteigen genommen - ein Zelt mit 1,3 kg für uns zwei, einen Minikocher und sehr wenig zu essen. In den Highlands braucht man eigentlich kein Wasser mitzunehmen, da man immer wieder an Bächen vorbeikommt aus denen man trinken kann - wenn man hoch genug ist. Wir ernteten unterwegs mehrfach erstaunte Blicke als wir sagten, dass wir nicht auf Tagestour sind.
Endlich geht es los - zwei volle Tage für die Papas. Zuerst geht es entlang der alten A9. Eine super einsame perfekt asphaltierte Straße, die parallel, wer hätte es gedacht, zur neuen A9 (vierspurig, starker Verkehr), die Hauptverbindung in Schottlands Norden, läuft. Dummerweise entscheidet sich 5 km nach dem Start der Wurm, den wir am Vortag in Falks Reifen gefriemelt haben, doch dazu den Weg ins Universum anzutreten. Ich konnte gerade noch ausweichen, sodass mich nicht die volle Ladung Reifenejakulat trifft. Etwas entnervt finden wir dann doch im Kingussie bei Bothy Bikes schnell einen neuen Reifen und eine gute Pumpe und sind im Nu wieder auf dem Weg.
Endlich geht es bergauf und nach einer kurzen Pause bei einem recht bekannten alten Gemäuer geht es endlich in die Berge. Meditativ kurbeln wir uns das lange Tal bergan, glücklicherweise haben wir einen leichten Gegenwind, sodass uns die Midgies nicht allzu sehr nerven, die sollten später noch auf ihre Kosten kommen. Nach dem Pass kommen wir auf den etwas schmaleren Pfad am Loch An Duin – hier ist Schieben stellenweise deutlich effizienter. Gegen Ende werden wir aber dann doch nach ein paar Abfahrtsmetern mit einer ordentlichen Flussquerung belohnt. Dummerweise scheine ich unterwegs das Laufen verlernt zu haben. Ich falle auf der anderen Seite des Flusses immer wieder hin, die Steinplatten sind einfach zu glatt für meine Schuhe. Also rauf aufs Rad. Siehe da, es geht deutlich besser. Falk liegt vor Lachen im Gras und ich eiere radelnd aus dem Flussbett. Später stellt sich bei genauerer Betrachtung heraus, dass große Teile der Gummisole meiner Fahrradschuhe so abgelaufen sind, dass nur noch das Cleat (ein Metallplättchen) Bodenkontakt hat. Kein Wunder, dass ich damit auf poliertem, nassem Granit keinen Halt finde.
Als Falk sich von der Lachattacke erholt hat, geht es weiter Richtung Blair Atholl. Dort gibt es mehrere Pubs und in einem genießen wir Burger, alkoholfreies Bier und Schokoladenkuchen zum Nachtisch. Eine auf den ersten Blick nicht unintuitive Facette des Don’t race it Ansatzes – wir haben viele leckere, Kalorien in kurzer Zeit und entspannter Atmosphäre eingenommen – Erholung, auch für den Kopf. So gestärkt machen wir uns wieder auf.
Hier machen wir uns jetzt auf unsere Abkürzung: Wir fahren das Glen Tilt bis zum Ende, wo wir dann bei Sonnenuntergang Zelten wollen. Das ist der weitere Aspekt von Don’t Race it! Einfach so lange weiterfahren, wie es geht. Mann kommt so weitaus besser und weiter voran, als wenn man ständig auf dem Gaspedal steht. Wir arbeiten uns das Glen aufwärts. An manchen Stellen, wo es halbwegs eben ist, treffen wir auf Wanderer, die mit Mückennetzen vor Ihren Zelten liegen und den Abend, na ja, genießen. Wir haben keine Mückennetze eingepackt, da wir exponiert und erst in der Dunkelheit zelten wollen – da haben wir uns definitiv verrechnet, aber dazu gleich. Dummerweise habe ich aufgrund eines Durchschlages noch einen massiven Druckverlust im Vorderreifen, den ich mit Pumpen unter Midgie Einfluß nicht, dann aber mit einer CO2 Patrone, schnell gefixt bekomme. Was ist los? Eigentlich ist es doch windig genug?
Kurz vor Sonnenuntergang kommen wir auf der Wasserscheide in der Nähe von einer Ruine und an einem Bach an. Perfekter Platz zum Zelten. Wir bauen das Zelt auf und breiten unser Zeug ums Zelt aus. Wir gehen in den Bach und waschen uns – bis wir im Bach gemidged (der schottische Ausdruck für eine Midgeattacke) werden. Nass wie wir sind, rennen wir los und springen wie im Comic nacheinander in unser kleines Zelt und machen den Reißverschluss zu. Abtrocknen kommt später, erst rollen wir mit unseren Schlafsäcken (im Packsack) die Midges, die es ins Zelt geschafft haben, tot. Wahrscheinlich einige hundert. Dann beschließen wir zu warten bis es ganz dunkel ist, bis einer von uns raus geht, um unser Zeug zusammen zu sammeln.
Eine Stunde später ist es dunkel, die Midges prasseln aber immer noch wie Nieselregen aufs Zelt. Egal ich gehe raus, weil ich sonst mit den Viechern eigentlich ein gutes Verhältnis habe, räume unser Zeug zusammen und mache alles fertig für die Nacht. Ich komme nach 7 Minuten völlig zerbissen und mit mehreren Schwellungen zurück ins Zelt. Friedlich schlafen wir unter dem leichten Prasseln der Midgies ein. Am Morgen hat der Wind wieder ordentlich aufgefrischt, sodass wir uns problemlos vors Zelt trauen und losradeln. Nach ca. 30 Minuten kochen wir in einer Bothy Kaffee und Tee und frühstücken ein wenig.
Weiter geht es bergab nach Braemar, ein schönes, verschlafenes Nest mit einem grandiosen Kaffee, wo wir unser zweites Frühstück einnehmen. Weiter geht es bergauf, um wieder Richtung A9, also die andere Seite der Cairngorms zu kommen.
Bei diversen Anstiegen und Abfahrten durch echt schöne Landschaft gehen die Zeit und die Kilometer leider viel zu schnell vorbei. Wir arbeiten uns Anstiege hoch, frieren uns Abfahrten hinunter, bis wir auf ein paar andere Radfahrer treffen, die die gleiche Runde in entgegengesetzter Richtung fahren wollen. Im Gespräch wundern sie sich wieder über unser schlankes Gepäck, gestehen dann aber genug Bier für drei Tage dabei zu haben. Da können wir nicht mithalten.
Wir beeilen uns vor 15 Uhr im nächsten Restaurant zu sein, um etwas zu Essen zu bekommen – zwischen 15:00 und 19:00 Uhr haben die Köche in Schottland Pause. Wir schaffen es um 14:45 und machen uns um 15:30 wieder auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt in Boat of Garten. Kurz vor Boat of Garten mündet die Cairn Gorm Umrundung wieder auf den Speyside Trail – ein für sich genommen auch sehr lohnendes Unterfangen. Am Abend, bei einsetzendem Regen, sammelt uns dann meine Frau wieder ein. Wir erheben hier keinen Anspruch auf eine ‚ordentliche‘ Umrundung von Punkt zu Punkt. Wir hätten noch ca. 1,5 h zu unserem Ausgangspunkt gebraucht, hätten dann aber das Abendessen mit unseren Familien extrem gestört.
Falk hatte noch eine andere Runde vorgeschlagen, die wir dann aber doch wegen eines Frühstücks mit den Familien tiefer priorisiert hatten. Aber egal, an Silvester hatte ich Ally kennengelernt, einen Skitouren affinen Adventure-Racer von der Isle of Skye. Wir telefonierten und entschieden uns dann dazu, die Burma Road anzugehen. Einen netten Tagesausflug, wieder in der Gegend um Avimore, mit sehr steilen Passagen und einem schönen Bergsattel. Der Name Burma Road entstand wohl dadurch, dass deutsche Kriegsgefangene in Schottland eine Straße bauen mussten, die recht steil über einen Pass führte. Die Legende berichtet, dass die Deutschen von den Schotten sehr fair behandelt wurden, anders als die schottischen Kriegsgefangenen in Burma. So hat man die Straße dann den Schotten in Burma zu Ehren Burma Road getauft.
Wir starten in Carrbridge, fahren wieder entlang des Speyside Trail und stoppen erstmal in Boat of Garten und trinken einen sehr guten Kaffee, damit ich Zeit habe meine Route auf mein Garmin zu laden – etwas, was ich beim ersten Frühstück vergessen hatte. Anschließend radeln wir quatschend Richtung Anfang der eigentlichen Burma Road. Das erste Stück ist das steilste und sogar ein wenig asphaltiert, geht aber schnell in den Belag über, dem wir die Namensgebung dieser neuen Räder zu verdanken haben – Gravel.
Wir pedalieren uns entspannt rauf bis auf eine Stelle kurz vor dem Pass, wo ich auf einem eher breiten, aber sehr sandigen Stück, etwas schieben muss – mein Hinterreifen hatte auf der Mitte alles Profil verloren – und auch ich merke die letzten zwei Tage etwas. Als ich ein wenig ob meiner Schwäche fluche, gibt mir Ally einen wichtigen Tipp: “Be kind to yourself, you have to live with you for quite some while.” Diese Worte sind irgendwie ähnlich zu ‘Don’t race it’ und helfen echt weiter.
Am Pass angekommen machen wir kurz ein Bild mit Gipfel im Hintergrund und machen uns dann die Abfahrt runter. Bei den Wasserrillen ist Ally mit seinem Mountainbike klar im Vorteil. Er surft und ich muss mich schwer konzentrieren, aber wir kommen beide mit einem guten Grinsen wieder in der Welt des Speyside Trails an und beenden die Runde in einem niedlichen Café in Carrbridge, bei dem die Auswahl an glutenfreien Kuchen so groß ist, dass ich die Verkäuferin ungläubig anschaue und bitte sie nochmal auf alles zu zeigen.
Alles in allem sind die Cairngorms ein super Gebiet, um mit dem Gravelbike seine Runden zu drehen. Es gibt eine angenehm hohe Dichte an Cafés, Fahrradläden, B&Bs und Campingplätzen, um dort einen genügend entspannenden Urlaub zu verbringen. Und auch dieser Kompromiss auf verschiedenen Fahrrädern macht echt Spaß.