2/23 – 100 KILOMETER

Dämmerung in Hattingen

100 Kilometer

Von dem Gefühl weiter zu laufen als andere Fahrrad fahren würden.

100 Kilometer? Japp! Zu Fuß? Japp! In der Woche? Nein, in 24 Stunden! Das würde ich nicht mal mit dem Fahrrad fahren!“, „Das geht doch gar nicht!“ oder „Tun einem da denn nicht die Füße weh?“. Ohja … das tun sie!

Es ist der 10. September 2023, ich sitze auf einer Mauer der Isenburg in Hattingen und blicke nach Westen, ganz allein. Der Himmel ist feuerrot gefärbt als sich um 7:08 Uhr der erste schmale Streifen der Sonne über den Horizont erhebt. Ich bin zu diesem Zeitpunkt mehr als 24 Stunden wach und seit fast 18 Stunden auf den Beinen. 77 Kilometer sind bereits geschafft und trotzdem weiß ich, dass noch weitere fünf Stunden vor mir liegen, denn 23km sind es noch bis zurück nach Wuppertal! Während ich der Sonne beim Aufgehen zusehe, weiß ich, dass diese Kilometer die Hölle sein werden, denn seit einigen Kilometern melden sich meine Fußsohlen deutlich zu Wort und beschweren sich über die Behandlung der letzten Wochen und Monate. Dies ist nicht mein erster 100 km Marsch, sondern der vierte in diesem Jahr und der letzte in Kopenhagen liegt erst zwei Wochen zurück. Aber dieser hier ist etwas Besonderes, von den Teilnehmern liebevoll „Endgegner“ genannt legt er auf die 100 Kilometer noch knapp 2000 Höhenmeter in die Waagschale, von Wuppertal durch Gevelsberg nach Hagen über die Ruhr bei Herdecke durch die Hügel nach Witten, Hattingen und zurück zum Start. Mit einem letzten Blick zurück auf den Sonnenaufgang stelle ich mich wieder auf die Füße… Zeit den Endgegner erneut zu besiegen…

Start in Wuppertal

Ganz schön Grün hier!

Willkommener-Schatten!

Der Hintergrund

Seit Corona haben die Deutschen das Wandern für sich entdeckt. 37 % gaben in einer Befragung an, seit Corona häufiger wandern zu gehen. Aber was wären wir Menschen, wenn es nicht ein paar Bekloppte gäbe, die diesen Trend auf die Spitze treiben: Die Extrem- oder Ultrawanderer. Ob Fernwanderwege, Überschreitungen ganzer Gebirgszüge oder die Umwanderung ganzer Seen, nichts ist diesen Leuten zu weit oder dauert zu lange. Diesen Trend haben auch verschiedene Anbieter erkannt, die solchen Wanderverrückten seit einigen Jahren ganz besondere Challenges bieten: Extremmärsche! Die wohl häufigsten Challenges sind dort entweder 50 Kilometer in 12 Stunden oder sogar 100 Kilometer in 24 Stunden mit den eigenen Füßen zu erarbeiten. Je nach Anbieter ergeben sich auch noch kürzere (30 km), Zwischendistanzen (55, 60 oder 75km) oder - für ein sehr kleines, sehr besonderes Zielpublikum - auch längere Distanzen mit bis zu 171 km in 48 Stunden. Die Besonderheit ist, dass es bei den meisten Anbietern keine Zeitnahme oder ein Ranking gibt, denn es handelt sich dort nicht um einen Wettkampf, sondern nur um einen Kampf gegen sich selbst.

Zur Klarstellung an dieser Stelle: Ich berichte hier über einen Mammutmarsch, der zweite ähnlich große Anbieter heißt Megamarsch, aber auch viele kleine Anbieter quer durch Deutschland ermöglichen solche Herausforderungen. Jeder Anbieter hat seine Vor- und Nachteile, dieser Text soll keine Werbung speziell für diesen Marsch sein. Die Infobox enthält deshalb zum Ausgleich eine beispielhafte Liste weiterer Anbieter.

30 Kilometer Zeit für ein Eis

Motivationsbananen für alle

Halbzeit gegen Mitternacht in Witten, es ist sehr warm

Begegnungen am Wegesrand

Abends um neun in Herdecke

Leuchtende Deko damit man nachts nicht verloren geht

Wie sie sehen, sehen sie nichts! Unterwegs mit Stirnlampe!

1 2 3 4 5 6 7

Warum mache ich das nochmal?

Diese Frage stellt sich wohl jeder 100 km Wanderer irgendwann im Laufe seines Marsches. Bei mir kommt diese Frage eigentlich recht zuverlässig irgendwo bei Kilometer 65 und hält sich meist bis etwa Kilometer 75 oder 80. Zu dieser Zeit bin ich schon seit unzähligen Stunden auf den Beinen, es ist dunkel, die Sonne noch nicht in Sicht, es ist die kälteste Zeit der Nacht, der Frühstückshunger setzt ein und überhaupt: „Ich muss mal PIPI“. Meine persönliche Antwort auf diese Frage war wohl, einfach mal sehen zu wollen, wo denn eigentlich meine Grenzen liegen. Nach vielen bestiegenen Bergen und einigen Extremmärschen bis zu 60 Kilometern waren diese noch nicht erreicht. Jedoch wird wohl jeder Extremwanderer bestätigen, dass der Schritt zu den 100 Kilometern dann doch noch einmal ein ganz Großer ist. Im Gegensatz zu den „Kurz“distanzen startet man nicht am Samstagmorgen und fällt abends (oder je nach Tempo nachts) erschöpft ins Bett, sondern startet (je nach Anbieter) mittags, läuft den restlichen Tag, die ganze Nacht durch und auch noch in den nächsten Tag hinein.

Mein erster 100 km Marsch war tatsächlich genau dieser Endgegner im Jahr 2022. Trotz miserabler Voraussetzungen (zwei Tage vorher noch krank und es schüttete an diesem Samstag 8 Stunden lang) schaffte ich den Zieleinlauf in 21,5 Stunden. Ich muss jedoch sagen, dass meine Erinnerungen an diesen Marsch nicht mehr sonderlich gut sind, weswegen ich von diesem Jahr berichte. In diesem Jahr standen die Vorzeichen deutlich besser, gut trainiert von zahlreichen Märschen und mit der Erfahrung einiger 100er im Gepäck startete ich dieses Mal nach einem guten Frühstück bei meiner Cousine gut gelaunt in den sonnigen Tag. Dieses Mal ging es auch nicht allein an den Start, da ich mit einer Freundin, die ich im Sommer auf der Düsseldorfer Hütte in Sulden kennengelernt hatte, und ihrem Mann verabredet war.

Just in time schafften es beide pünktlich zum Start für ihren ersten 100er, wo uns das Team mit einem Applaus und der traditionellen Startmusik „last of the Mohicans“ auf die Reise schickte.

Das für Anfang September sehr heiße und zeitweise schwüle Wetter machte vielen Teilnehmern merklich zu schaffen. Bereits am ersten Versorgungsposten nach etwa 18 Kilometern zeigten sich schon die ersten Ausfälle, die sich am zweiten Versorgungsposten bei 39 Kilometern und dem Einbruch der Nacht noch verstärkten.

Kein Wunder, denn zu diesem Zeitpunkt steckten einem schon gute 700 Höhenmeter in den Beinen. Was jedoch die Extremmarschgemeinschaft immer ausmacht: Jeder wird im Blick behalten. Sitzt man irgendwo am Weg, kann man sich sicher sein, dass man alle fünf Minuten gefragt wird, ob denn alles in Ordnung sei, oder ob man irgendetwas brauche? Wasser? Snacks? Blasenpflaster? Gemäß dem Namen des Anbieters ist man nämlich Teil der Herde, der Mammutherde und in einer Herde hält man zusammen.

Wir erreichten aber noch recht frohen Mutes dieses Zwischenziel und mit einer Bratwurst für kleines Geld (die anderen Snacks und Getränke wie Wasser, Cola oder Isodrink sind inklusive) im Bauch ging es dann in die Nacht.

Sonnenaufgang an der Isenburg

Die Nacht und eine Entscheidung

Bei einer Bergtour gibt es eine wichtige Regel: Niemals lässt man jemanden am Berg zurück oder trennt sich, der langsamste gibt das Tempo vor. Für Extremmärsche gelten da manchmal andere Regeln, 100 Kilometer unter oder über seinem Komforttempo zu wandern, ist für viele nicht schaffbar. So sehen viele Wanderverabredungen so aus: Wir laufen zusammen, gucken, ob es passt, sonst macht jeder sein Ding.

Allerdings ergeben sich dadurch auch wunderbare neue Bekanntschaften, wenn man feststellt, dass man doch schon seit mehr als einer Stunde direkt neben, vor oder hinter einem anderen Wanderer läuft und doch eigentlich auch zusammenlaufen könnte. So hat man plötzlich seinen persönlichen Wanderbuddy für diesen und manchmal noch viele weitere Märsche gefunden.

In dieser Nacht sank das Tempo meiner Mitwanderer innerhalb weniger Kilometer deutlich, da der Mann meiner Bergfreundin die Zeche für die hohen Temperaturen am vergangenen Tag zahlen musste. So fiel kurz nach dem 70 km Schild die Entscheidung, sich zu trennen, damit ich eine Weile wieder mein Tempo laufen konnte. Und so wanderte ich allein weiter durch die Nacht, den Morgennebel und bis zu meinem Sonnenaufgangsmoment auf der Isenburg.

Milchreis zum Frühstück!

Im Ziel

Zieleinlauf

Wieder vereint

Doch als ich mich auf die letzten 23 Kilometer machen wollte, erreichte mich die Nachricht meiner Wanderbuddine (oder wie ist die weibliche Form von Wanderbuddy?), dass sie ihren Mann sicher in einem Taxi untergebracht hatte und wegen der Sonnenaufgangsverzögerung nun wieder knapp hinter mir war. Sofort war klar, ok, dann bringen wir das jetzt zusammen zu Ende. Nach einem Milchreis mit Kirschen und Zimt am letzten Versorgungsposten und brennenden Fußsohlen kam es dann auch tatsächlich dazu, kurz nach zwölf, ziemlich genau 23 Stunden, nachdem wir auf der Wuppertaler Nordbahntrasse gestartet waren, liefen wir gemeinsam durchs Ziel. Unter Jubeln und Pfeifen, ich mit meinem Fünften, meine Partnerin mit ihrem ersten 100er in den Beinen. 100 Kilometer, 100.000 Meter und damit mehr als 120.000 Schritte - weiter als 99% der Menschen in ihrem Leben jemals am Stück gehen - zu Fuß, jeder Meter selbst erkämpft und gewonnen.

Und dieses Gefühl lässt sich wohl kaum beschreiben, das muss man einfach wirklich erlebt haben. Besonders, wenn dann im Ziel auch noch Teile meiner kleinen Marschfamilie warten und mir die Medaille um den Hals hängen, da rollt dann auch mal eine Träne.

Die Extremmarschfamilie

Ich mache jetzt seit ziemlich genau zwei Jahren Extremmärsche, meistens bei diesem, aber auch bei anderen Anbietern. Was mir schnell aufgefallen ist, mit welcher Herzlichkeit man unter diesen Spinnern aufgenommen wird. Zum ersten Mal dabei? Egal! Herzlich willkommen! Du musstes aufgeben? Egal! Jeder Schritt ist ein Gewinn!

Vielleicht weil man schon ein wenig verrückt sein muss, um so etwas zu probieren und man als Verrückter weiß, wie es ist, sich nicht willkommen zu fühlen. Vielleicht, weil sich unter den Teilnehmern viele mit einer krassen Geschichte finden, von Traumata, Verlusten, riesigen Gewichtsverlusten, schweren Krankheiten, harten Kämpfen und diese Menschen genau wissen, wie wichtig die gegenseitige Unterstützung ist. Vielleicht, weil eine solche Grenzerfahrung einfach zusammenschweißt. Vielleicht, weil es doch irgendwie immer der gleiche Haufen ist, der sich all-Samstaglich versammelt. Alle für sich besonders, mit Eigenheiten, liebenswerten Seiten, Schrullen und ihren ganz eigenen Geschichten, aber immer bereit, auch den letzten Teilnehmer nach über 30 Stunden noch im Ziel zu feiern.

Ich kann jedem nur empfehlen, mal bei einem solchen Marsch die eigenen Grenzen zu testen, mögen sie bei 15, 30, 50 oder 100 Kilometern liegen, denn die Schmerzen vergehen, die Blasen verheilen, aber der Stolz bleibt.

Infobox Anbieter:

Megamarsch (www.megamarsch.de):
14 Städte mit 50 km Märschen, 7 mit 100 km Märschen

Mammutmarsch (www.mammutmarsch.de):
14 Städte mit meist 30 oder 55 km, 4 mit 100 km Märschen

Ultramarsch (www.ultramarsch.de):
Anbieter für Zwischendistanzen (75 km) und 100+ Distanzen, aber auch virtuellen Events

Nord-Marsch (www.nord-marsch.de):
Anbieter mit sehr vielen verschiedenen (auch kürzeren) Distanzen in Deutschlands Norden

Viele weitere kleinere und größere Anbieter wie:
AdventureWalk, Bergische50, KölnPfad, ExtremExtrem, Quälixfaktor, Ostseeweg, Hollenmarsch, EMTI, Habichtswaldsteig24, Heldenmarsch, 7-Seen-Wanderung, Rhein-Ahr-Marsch, Elbsteiger Marsch, Erz50
(Liste unvollständig!)

Text und Fotos: Teresa Herzner