2/23 – DER GRIFF INS LEERE!

Der Griff ins Leere!

Unterwegs in Mallorcas Küstengebirge bei bestem Wetter über Ostern zu sein, ist schon ein grandioses Geschenk! Aber das „Geschenk“, diese 3 Tage ohne Handy auszukommen, ist nicht einfach anzunehmen.

Leise rauscht der spätnachmittägliche Wind die Karststeinhügel hinauf und streicht durch die Oliven- und Lorbeerbäume. Der Chor der Gesänge von Amseln, Meisen und einem in der Ferne klopfenden Specht mischt sich harmonisch mit den spanischen und deutschen Wortfetzen vor der Hütte Tossals Verds mitten in der mallorquinischen Sierra de Tramuntana.

Es ist Karfreitag und Lukas und ich haben es uns nach dem Zimmerbezug auf der weiten parkähnlichen Terrasse gemütlich gemacht. Ein Lamm blökt auf einer unterhalb im Hang liegenden Weide energisch nach seiner Mutter. Von den rund 15 Gästen, die eidechsengleich die Restwärme von den Platten aufsaugen, bevor es mit Sonnenuntergang bitterkalt wird, schaut nur einer auf sein Handy. Der Rest genießt die Ruhe, den einzigartigen Duft aus Wacholder, Eukalyptus und Pinie, dehnt sich in der Hoffnung, dass die Muskeln auch morgen geschmeidig bleiben oder macht – wenn dazu zu müde – ein kleines Nickerchen. Warum mir das auffällt? Naja, gestern Abend, es muss so gegen 22:00 Uhr gewesen sein (Näheres zum Todeszeitpunkt und den näheren Umständen wird die Spurensicherung und Notfallaufnahme der Reklamationsabteilung feststellen) hat der Akku meines Samsung 21+G5 (die Seriennummer wird zur Wahrung der Privatsphäre nicht genannt) bei 89% jede weitere Energiezufuhr selbst in moderaten adapterportionierten Dosen verweigert. Einfach so, als würde er renitent mit seinem Hungerstreik einer später nachgereichten Forderung jetzt schon Nachdruck verleihen wollen. Etwas nervös war ich dann doch, als heute Morgen um 6:00 Uhr bei inzwischen nur 83% auch eine Energieaufnahmeanimation mit seinen Lieblingsspeisen, dem verführerischen Ferrero-Rocher-weißen Ladekabel, dem lakritzigen Doppelstecker oder dem tieftintenfischschwarzen Flexkabel nicht fruchtete. Eigentlich eine eindeutige Ansage! Immer noch der Meinung, dass meine positive Einstellung und seine Einsicht über die Unsinnigkeit seiner Aktion zu einem positiven Ende führen würden, schob ich sein postpubertäres Verhalten erst einmal guter Dinge beiseite und ihn in die Hosentasche.

Abendstimmung am Rifugio Tossals Verds

2 Rußköpfchen - auch Unzertrennliche genannt - am Rif. Muleta

Blütenpracht

Von Silke und Alex zu unserem Startpunkt am Kloster Lluc gebracht, zogen Lukas und ich zwischen schattenspendenden Efeu- und Lorbeerbäumen hinauf Richtung Puig de sa Mola. Die ehemaligen Schneehäuser, aus denen Anfang des letzten Jahrhunderts die Küstenregionen noch mit Schnee und Eis versorgt wurden, hatten tatsächlich noch Altschneereste zu bieten. Noch vor einigen Wochen Mitte Februar hatte es auf Mallorca heftig geschneit und so kam es in einigen Gebieten zu heftigem Schneebruch. Bei strahlendem Sonnenschein ließen wir die Hänge des Puig de Massanella links liegen und wandten uns dem weitläufigen Tal Comellar des Prat zu. „Zum Glück hab´ ich schon für den Rückflug eingecheckt!“, ging es mir durch den Kopf. „Eine Kreditkartenfreigabe übers Handy brauche ich bestimmt nicht hier im Urlaub! Ich habe doch noch die Powerbox, damit überliste ich ihn ganz bestimmt, diesen blöden Akku!“ Gesagt, getan! Mittags hole ich bei unserer ausgiebigen Pause im hohen Gras meinen treuen langjährigen Wegbegleiter aus dem Rucksack, in den ich ihn quasi als erste Abnabelungsstrategie verbannt hatte, und sehe mit großem Entsetzen, dass jede Hilfe zu spät kommt. Deutlich hatte sich sein Akkubauch gebläht und schon seine Gehäusehaut aufgerissen. Tod bei 77%! Trotz künstlichem Energiesparkoma! Ich war fassungslos, hatte kurz das Gefühl, als löse sich ein Teil von mir gerade in Luft auf, als ging etwas verloren, das mich irgendwie definiert hatte! Und noch 9 Tage bis zu einer möglichen Reinkarnation in der Reklamationsabteilung! Bis dahin: nichts! Keine App, keine entspannten Daddeleien, keine eigene Naviapp, kein Infinityscroll, keine Fotos - zumindest keine, die ich gemacht hatte und die ich weiterschicken konnte! Nada!

Im Anstieg zum Puig Massanella im Hintergrund der Puig Major

Schneemännchen vor den zerfallenen Schneehäusern

Noch waren wir nicht am Ziel – kurze Pause in Soller

Küstenabschnitt vor Deía

Am Passo de Morro oberhalb des Cúber Stausees

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Zunächst verdrängte ich dieses wahrgewordene Szenario, versuchte einfach diese Gedanken nicht zu denken und mich auf diese wunderschöne Landschaft einzulassen. Inzwischen hatten wir das offene Gelände mit seinen lebendigen Kontrasten aus grünen Pinien, Olivenbäumen und dunklen kratzigen Sträuchern auf hellem auserodiertem Kalk hinter uns gelassen und liefen den perfekt markierten GR221 Richtung Puig de Tossals Verds. Über ihn und nicht über den östlich vorbeiführenden Wanderweg wollten wir unseren ersten Berggipfel mit immerhin 1.099 Metern heute feiern. Außer uns sind an diesem Karfreitag recht viele Spanier und ein paar wenige Deutsche unterwegs. Unser Spanisch ist sehr ausbaufähig, aber für ein paar Sätze am Wegesrand reicht es doch. In wirklich flottem Tempo zog Lukas die 400 Höhenmeter auf einem steinmännchenmarkierten Pfad bis zum Gipfel hinauf – er wollte die Steigung einfach schnell hinter sich bringen, wie er mir oben sagte. Ein herrlicher Rund-um-Blick von Palma bis zum Cap Formentor öffnete sich nach dem letzten Kalkrücken. Instinktiv glitt meine Hand in die linke Hosentasche – aber der Griff ging ins Leere. Schlagartig war ich wieder in meinem Film: Kein Handy, keine Fotos, keine Erinnerung! Blödsinn! Ich ärgerte mich über mich selbst, riss mich innerlich zusammen und bat Lukas ein paar Gipfelfotos zu machen. So einfach geht das, dachte ich. Schließlich bin ich hier, um eine ungezwungene Zeit beim Wandern zu verbringen und nicht Sklave meiner Apps zu sein! Eigentlich ein Glücksfall diese Freiheit zurückgeschenkt zu bekommen. Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren.

Den sich rar machenden Steinmännchen folgten wir nun die steile westliche Flanke teilweise abkletternd hinab Richtung Wanderweg. Die Wanderschuhe hielten wie festgeklebt auf dem rauen Kalk – ein Genuss!

Uralter Olivenbaumstamm

Abstieg vom Puig de Tossals Verds

Wilde Olivenbaumformen beflügeln die Phantasie

Mit uns sitzen nun am großen Holztisch ein Madrilene und seine in Palma geboren Tochter. Es gibt dem hohen Feiertag angemessen Bacalao (Kabeljau). In einer witzigen spanisch-englischen Sprachmischung erfahren wir vom Schneeeinbruch vor 4 Wochen und sehen Fotos von tief verschneiten Wegweisern. Kein Wunder, dass nicht nur Äste, sondern ganze Bäume unter der Last zusammengebrochen sind.

Wie auf Alpenhütten üblich, ist auch in Spanien um 10 Uhr abends Bettruhe. Müde und glücklich schlafe ich ohne weitere Gedanken an mein Telefon sofort ein.

Nach einem kräftigen Frühstück geht es heute weiter Richtung Soller zum Rifugio Muleta, ganz am Ende des Caps Gros in Port de Soller. Eigentlich wollen wir die 3 wie Perlen aufgereihten Gipfel Puig des sa Rateta, Puig de na Franqesa und Puig de l´Ofre südlich vom Stausee Cúber überschreiten, doch nachdem wir recht spät aufgebrochen sind und nun auch noch die Abzweigung vom Hauptweg verpasst haben, entscheiden wir uns für den Weiterweg auf dem GR 221 über den Paso de Morro mit einem Abstecher zum Puig de Cúber, von dem wir einen herrlichen Blick auf den türkisfarbenen Stausee tief unter uns genießen. Entspannt über große und kleine Themen plaudernd laufen wir später am See entlang und nach einem kleinen Anstieg über einen gepflasterten Eselweg steil hinab durch den Torrent de l`Ofre nach Biniaraix und weiter nach Soller. Die wuselige Enge der Fußgängerzone ist ungewohnt, aber das Bier vor der imposanten Kirchenfassade schmeckt nach dieser langen heißen Etappe besonders gut. Bis zu unserer Hütte am Leuchtturm sollen es aber noch 5 km sein. Zu weit, um jetzt schon den Gang völlig rauszunehmen. Doch statt den ausgeschilderten knubbeligen Weiterweg über hügliges Hinterland zu nehmen, entscheiden wir uns für die flache ufernahe Variante. Um 18:00 Uhr sind wir da – perfekt um unser Lager im 32 Bettenschlafsaal zu beziehen, zu duschen und einen Kaffee mit einem phantastischen Blick auf Meer zu genießen. Der Sonnenuntergang, den wir live per whatsapp-video (Lukas Handy sei Dank! 😉) mit Silke in Pollenca verfolgen, schlägt uns so in seinen Bann, dass wir das Abendessen kalt werden lassen. Die Schüsseln, aus denen uns saftige Hähnchenkeulen serviert werden, kommen uns bekannt vor; genauso der Salat. Und so kombinieren wir messerscharf, dass das Essen für die mallorquinischen Hütten zentral zubereitet und dann auf alle 5 Refugis verteilt wird. Tatsächlich haben wir auch gestern Abend keine entsprechende Küche entdeckt. Das geht sicher auch nur dank der kurzen Wege und guten Erreichbarkeit und wäre in den Alpen nur schwer umsetzbar, zumal dort die Hütten deutlich größer sind. Entspannt plaudern wir bis zur Hüttenruhe mit einer deutschen Familie, die in 7 Tagen vollständig den GR221 von Pollenca bis Port Andraix unter die Füße nimmt.

Sonnenuntergang am Rifugio Muleta

Am nächsten Morgen entscheiden wir uns für die uns empfohlene Variante direkt an der Küste entlang nach Deía. Die Wegfindung verlangt etwas Spürsinn, bietet aber tolle Ausblicke auf türkisfarbene Buchten vor tiefblauem Himmel gesprenkelt mit grünen Pinien und hellen Kalkfelsen. Trotz Sonne ist es im Schatten noch kühl - ein herrliches Wanderwetter. Nach einem Kaffeestop an der Cala Deía, zu der es jetzt kurz vor Mittag immer mehr Tagestouristen hinzieht, steigen wir durch den eigentlichen Ort und nach einer weiteren Stärkung auf einer kleinen Wiese am Wegrand steil durch lichte Wälder auf. Die kreisrunden Plätze neben dem Weg dienten früher dem Löschen von Kalk, für das damals noch jede Menge Wald zur Verfügung stand. Jetzt laden sie zum Rasten oder Zelten ein. Ein Blick nach oben verrät kein Durchkommen durch die 700 Meter hohe und an der Abbruchkante durch einen Felsriegel abgeschlossene Wand. Die Entgegenkommenden sehen allerdings recht entspannt aus. Und tatsächlich führt eine recht breite Rampe durch die letzte Steilwand, wobei die Lorbeerbäumchen rechts und links die Ausgesetztheit gut verwischen. Eine fröhlich schnatternde skandinavische Reisegruppe empfängt uns auf der Hochebene. Nach einigen sanften Kalkwellen wird der Blick auf die Südküste frei: die Kathedrale von Palma ist gut zu erkennen, noch besser allerdings das riesige dominante Kreuzfahrtschiff. Über den Puig des Vent auf 1.005 m fällt der Weg nun nach Valdemossa ab. Die ersten Fliederbüsche kündigen mit Apfel- und verspäteten Mandelblüten auf den mit Trockensteinmauern eingefassten Wiesen den Ort an. Und noch einmal steigt der sonnige Apfelsinenblütenduft im Vorbeigehen aus einem dicht bepflanzen Wiesenstück in die Nase. Herrlich! Mit allen Sinnen sauge ich diese Momente auf; tiefglücklich hier zu sein. Beschwingt laufen wir in Valdemossa ein und werden schon bald von Silke und Alex abgeholt.

Drei tolle Wandertage in einer wunderbaren Landschaft liegen hinter uns! Und - ach ja, mein Handy habe ich nicht vermisst. Für Fotos und Navigation reicht im Grunde ein Handy für die Gruppe aus – und selbst das wäre entbehrlich. Denn eine Landkarte bietet auf einen Blick viel mehr Infos als eine Navi-App und die schönsten Bilder werden mit dem Herzen aufgenommen!

Text: Dirk Emmerich Fotos: Lukas Emmerich